Messier 71 (M 71) – Ein ungewöhnlicher Kugelsternhaufen im Pfeil


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Schwedt/Oder, 27.10.2025, 19:07-21:45 Uhr MEZ
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Der Sternenhaufen Messier 71 (M 71) ist eines der rätselhaftesten Objekte im Messier-Katalog – ein Bindeglied zwischen den strengen, uralten Kugelsternhaufen und den lockereren, jüngeren offenen Sternhaufen. Er befindet sich im kleinen, aber markanten Sternbild Sagitta, dem Pfeil, und wirkt auf den ersten Blick wie ein dichter Funkenball aus Hunderten von schwachen Sternen. Doch dieser unscheinbare Haufen hat eine erstaunliche Geschichte zu erzählen.

1. Lage und Beobachtung

M 71 liegt etwa 13.000 Lichtjahre von uns entfernt, am Rande der galaktischen Scheibe. Sein Sternfeld ist reich und wirkt leicht getrübt, denn wir schauen durch dichtes interstellares Gas und Staub entlang der Milchstraße in Richtung ihres inneren Bereichs. Mit bloßem Auge ist M 71 nicht sichtbar, aber schon ein kleines Teleskop zeigt einen kompakten, körnigen Lichtfleck. In mittelgroßen Optiken löst sich dieser zu einem von vielen schwachen Sternen gesprenkelten Leuchten auf – nicht so klar strukturiert wie ein klassischer Kugelsternhaufen, aber deutlich dichter als ein offener Haufen.

2. Ein Sonderfall unter den Kugelsternhaufen

Lange Zeit gab es Kontroversen, ob M 71 überhaupt ein Kugelsternhaufen ist. Noch im 20. Jahrhundert wurde er oft als besonders dichter offener Sternhaufen klassifiziert. Erst mit modernen Messmethoden – insbesondere photometrischen Untersuchungen und später auch spektralen Altersschätzungen – wurde klar:
M 71 ist tatsächlich ein echter Kugelsternhaufen, aber einer der lockersten und ungewöhnlichsten seiner Art. Was ihn besonders macht:
  • Keine ausgeprägte zentrale Verdichtung
    Klassische Kugelsternhaufen besitzen ein stark konzentriertes Zentrum – M 71 nur sehr schwach.
  • Deutliche Sternmischung
    Die Sterne sind nicht streng nach Masse segregiert; die Struktur wirkt „verwaschen“.
  • Hoher Anteil jüngerer Populationen?
    Für einen Kugelsternhaufen ist M 71 ungewöhnlich metallreich und zeigt hinsichtlich seiner Metallizität eine eher junge Population, was ihn eher wie einen offenen Haufen wirken lässt.

3. Alter und chemische Zusammensetzung

Trotz seines lockeren Erscheinungsbildes gehört M 71 zu den „alten“ Objekten der Milchstraße:
  • Alter: etwa 9–10 Milliarden Jahre
  • Metallizität: relativ hoch
    (ungefähr −0.8 bis −0.6 dex; deutlich höher als typische Kugelsternhaufen wie M13 oder M15)
Das bedeutet: M 71 entstand zu einer Zeit, als die Milchstraße sich bereits chemisch weiterentwickelt hatte. Seine Sterne enthalten daher mehr „schwere Elemente“ (alles jenseits von Helium) als die Sterne der meisten Kugelsternhaufen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass M 71 nicht im Halo, sondern eher im Bereich der galaktischen Scheibe oder der dicken Scheibe entstanden ist.

4. Sternpopulation und Struktur

Die Sterne in M 71 zeigen einige typische Merkmale eines alten Haufens:
  • Rote Riesen
    Viele Sterne haben die Hauptreihe verlassen und befinden sich auf dem Roten Riesenast.
  • Horizontalast-Sterne fehlen fast vollständig
    Das ist ungewöhnlich und macht M 71 noch sonderbarer: typische Kugelsternhaufen zeigen einen gut ausgeprägten Horizontalast, M 71 nicht.
  • Blaue Nachzügler (Blue Stragglers)
    Es gibt einige dieser mysteriösen Sterne – sie scheinen jünger als die anderen zu sein und sind vermutlich durch Sternverschmelzungen oder enge Doppelsternsysteme entstanden.
  • Keine Kernkollaps-Struktur
    Der zentrale Bereich ist nicht extrem verdichtet; M 71 steht vermutlich am Anfang eines langsamen dynamischen „Verdampfens“.

5. Größe, Masse und Helligkeit
  • Durchmesser: etwa 27 Lichtjahre
  • Gesamtmasse: ca. 50.000 Sonnenmassen
  • Gesamt-Helligkeit: etwa +8.2 mag
  • Konzentrierungsklasse: niedrig – einer der am wenigsten konzentrierten Kugelsternhaufen
Damit gehört M 71 zu den schwächsten und lockersten Messier-Kugelsternhaufen – und gerade dadurch ist er in vieler Hinsicht ein Außenseiter.

6. Geschichte der Entdeckung
  • Erstentdeckung: vermutlich Philippe Loys de Chéseaux um 1745–46
  • Wiederentdeckung: Johann Gottfried Köhler um 1775
  • Eintrag in den Messier-Katalog: Charles Messier, 1780
Messier selbst konnte den Haufen nicht in einzelne Sterne auflösen und hielt ihn für einen „Nebel ohne Stern“. Erst mit stärkeren Teleskopen im 19. Jahrhundert zeigte sich seine körnige Natur.

7. Bedeutung für die Astronomie

M 71 ist ein Übergangsobjekt, das viel über die frühe Entwicklung der Milchstraße erzählt:
  • Er zeigt die chemische Entwicklung der galaktischen Scheibe.
  • Seine Struktur liefert Hinweise auf die dynamische Entwicklung lockerer Kugelsternhaufen.
  • Da bei M71 die Horizontalast-Sterne fast vollständig fehlen, erscheint sein Alters- und Entwicklungsdiagramm eher wie das eines offenen Haufens als das eines klassischen Kugelsternhaufens.
Für Astronomen ist M 71 deshalb ein Laboratorium für die Frage: Wie unterscheiden sich die Entwicklungspfade von offenen und Kugelsternhaufen – und wo liegen die Grenzen dazwischen?

8. Eindruck in der Astrofotografie

Auf Fotos wirkt M 71 wie ein „weicher“, fein verwaschener Sternhaufen:
  • viele schwache, warm gelbliche Sterne
  • wenige deutlich dominierende Einzelsterne
  • ein heller, aber nicht stark konzentrierter Zentralbereich
  • eingebettet in ein sternreiches Milchstraßenfeld
M 71 ist ein ideales Fotomotiv, um subtile Strukturen zu zeigen und das Spiel aus Sternendichte und Farben zu betonen.

Zusammenfassung

Messier 71 ist ein bemerkenswertes astronomisches Objekt:
  • ein locker gebauter Kugelsternhaufen,
  • alt, aber chemisch relativ „jung“,
  • ohne eine typische Kugelhaufenstruktur,
  • im Sternbild Sagitta leicht zu übersehen – und dennoch wissenschaftlich hochinteressant.
Er ist ein stiller Zeuge der frühen Milchstraße und zeigt, wie vielfältig und komplex die Sternhaufenwelt wirklich ist.